Page 9 - Burgdorfer Zeitung - KW 35 - 2022
P. 9

DIENSTAG, 30. AUGUST 2022                                                                                                                                    SEITE 9





              «Wir investieren viel in Nachhaltigkeit und die Digitalisierung!»




          Die gesellschaftlichen Struk-                                                                       Europa ab. Einer der Haupttrei-  Welche Chancen geben Sie der
          turen und damit auch die Ho-                                                                        ber ist ein simpler: die durch-  Vier-Tage-Woche, von der im-
          tellerie und die Tourismus-                                                                         schnittliche Lebenserwar-        mer öfter zu lesen ist?
          branche sind im Wandel.                                                                             tung der Bevölkerung Europas  Unternehmen  habe  sich  den
          Die grosse Chance der so-                                                                           wird kontinuierlich höher, das  gesellschaftlichen Bedürfnis-
          genannten «Diversität» hat                                                                          Rentenalter verharrt plus mi-    sen und dem Wertewandel an-
          auch Claude Meier, Direk-                                                                           nus und damit wird der Pro-      zupassen, wenn sie denn wei-
          tor HotellerieSuisse, erkannt.                                                                      duktionsfaktor Arbeit in ganz  ter erfolgreich auf dem Markt
          Die  Branche  ist  zukunfts-                                                                        Europa immer wie geringer.  tätig sein wollen. Daher halte
          orientiert unterwegs: Hier                                                                          Weniger Menschen im Arbeits-     ich es für eine Selbstverständ-
          spricht er über das Potenzial                                                                       prozess, deutlich  mehr Men-     lichkeit, dass auch KMU-Unter-
          der Vielfalt der menschlichen                                                                       schen im Pensionsalter. Wenn  nehmen ihre gängigen Arbeits-
          Ressourcen, über die Weiter-                                                                        wir gesellschaftliche Antworten  zeitmodelle überprüfen  und
          entwicklung der Berufsbil-                                                                          hierauf geben wollen, müssen  neue Modelle ausprobieren.
          der in der Branche und über                                                                         wir unter anderem dringend  Dies kann die Vier-Tage-Woche
          ein Mentoring-Programm für                                                                          über nötige Reformen im Be-      sein, aber auch Jahresarbeits-
          Hotelièren – und notabene die                                                                       reich der Sozialversicherungen  zeit- und Gleitzeitmodelle so-
          Bekämpfung des Fachkräfte-                                                                          sowie der Arbeitsmarkt- und  wie viele andere Möglichkeiten.
          mangels.                                                                                            Migrationspolitik aus Drittstaa-  Wer nichts Neues wagt, wird als
                                                                                                              ten sprechen. HotellerieSuisse  Unternehmerin und Unterneh-
          Die gesellschaftlichen Struktu-                                                                     macht als Branchenverband  mer schnell mal von Mitbewer-
          ren sind im Wandel, so wurde                                                                        selbst aber seine Hausaufgaben.  bern und der Attraktivität ande-
          beispielsweise seit dem 1. Juli                                                                     Wir integrieren unsere eigenen  rer Branchen überflügelt. Was
          die «Ehe für alle» offiziell ein-                                                           Bilder: zVg  drei Schulhotels in Interlaken/  in Betrieben versucht wird, ist
          geführt. Wo setzen Sie in Ihrer  In der traditionsreichen Schweizer Hotellerie ist die Gastfreundschaft ein tief   BE, Martigny/VS und Pontre-  hingegen in der Politik schon
          beruflichen Rolle als Direk-     verankerter Wert, der täglich gelebt wird.                         sina/GR zusammen mit unse-       lange blockiert – mehr Flexibi-
          tor des nationalen Arbeitge-                                                                        rer Hotelfachschule Thun/BE  lität und Modernisierungen im
          berverbandes HotellerieSuisse  aus der «Vielfalt» unternehme-     brauchen sämtliche Kräfte und  und der Ecole hôtelière de Lau-     Arbeitsrecht. Unser geltendes
          und  Verwaltungsratsmitglied  risch noch zu wenig gezielt. Im  Potentiale für unsere Branche,  sanne (EHL) Group zu einem  Arbeitsrecht kommt aus dem
          einer grossen internationalen  Vergleich etwa zu den interna-     um diese nachhaltig und inno-     einmaligen Bildungsanbieter  Zeitalter der Industrialisierung
          Bildungsinstitution  an,  wenn  tionalen Banken- und Versiche-    vativ weiterentwickeln zu kön-    für die Hospitality-Branche,  und ist längst überholt. Poli-
          es um das Thema «Diversität»  rungsbranchen, welche schon  nen. Es freut mich auch, dass                                             tisch mangelt es aber an einer
          geht?                            seit  Jahrzehnten Diversitäts-   die Delegiertenversammlung                                         genügend grossen und breiten
          Die Beherbergungswirtschaft  Management betreiben und ent-        von HotellerieSuisse einen wei-                                    Allianz, welche notwendige Ver-
          heisst in ihren Betrieben Gäste  sprechend gezielt vielfältige Mit-  teren klaren Entscheid fällte:                                  änderungen endlich im Inter-
          aus allen Kulturen, den unter-   arbeitende ansprechen und zu  2023 soll explizit ein Sitz für                                       esse von Arbeitnehmenden wie
          schiedlichsten Religionen, Men-  rekrutieren versuchen. Denn die  eine Junghotelière oder einen                                      Arbeitgebern realisieren.
          schen sämtlicher geschlechtli-   diversen Mitarbeitenden wer-     Junghotelier jünger als 35-jäh-
          cher Identitäten und aus allen  den in Zukunft noch viel mehr  rig im strategischen Organ ge-                                        Was sind die massivsten Ver-
          Generationen herzlich willkom-   den  eigentlichen  «Trumpf»  in  schaffen werden. Ziel hierbei                                      änderungen in Ihrer Branche in
          men. Auch unsere rund 240'000  der individualisierten Gästebe-    ist, dass die Branche die Be-                                      den nächsten zehn Jahren?
          Mitarbeitenden des schweizeri-   treuung und Gästebegleitung  dürfnisse aus dem Blickwinkel                                          Die Digitalisierung ist wei-
          schen Gastgewerbes sind viel-    einer hoch technologisierten  der jüngeren Generation noch                                          ter voranzutreiben, um gerade
          fältig: im Vergleich zu anderen  Gesellschaft ausmachen.          besser in die Branchenweiter-                                      auch dem Mangel an Arbeits-
          Wirtschaftssektoren überdurch-                                    entwicklung miteinbezieht.                                         kräften mittels technologischer
          schnittlich  jung,  weiblich  und  Gibt es hier auch Potenzial für                                                                   Automatisierungsprozesse ent-
          international. «Diversität» ist  den Schweizerischen Touris-      Kommen wir noch zum Wandel                                         gegenwirken zu können. Wei-
          daher in unserer Branche eine  mus im Zeitalter des Fachkräf-     in der Branche: In der Gastro-                                     ter investieren wir innerhalb
          gelebte Realität. Das Gleiche  temangels?                         nomie fehlen mehr denn je die                                      der Hotellerie und Parahotelle-
          gilt für die weltrenommierte Bil-  Schweiz Tourismus als natio-   Fachkräfte. Wohin sind die alle                                    rie viel in die Entwicklung eines
          dungsinstitution Ecole hôtelière  nale Tourismus-Vermarktungs-    verschwunden?                     Claude Meier, Direktor HotellerieSu-  nachhaltigeren Tourismus. Ent-
          de Lausanne (EHL) Group, de-     organisation hat nicht zufällig  Also ehrlich, ich weiss es nicht.  isse: «Menschen annehmen, so wie   scheidend ist zudem das künf-
          ren Stifter und Träger der Bran-  seit rund drei Jahren den Fo-   Manchmal  kommt  es  mir  so  sie sind, gehört zu unserer Branchen-  tige wirtschaftliche Umfeld für
          chenverband HotellerieSuisse  kus auch gezielt auf das Thema  vor, als gäbe es ein «schwarzes  DNA.»                                 unsere KMU-Betriebe: globale
          ist. Die EHL hat Lernende und  der «Diversität» gelegt. Sie  Loch» im Universum, welches                                             Lieferengpässe tangieren unsere
          Studierende im Campus Lau-       unterstützen verschiedenste  zurzeit massenhaft Arbeits-           welche Bildungsabschlüsse von  Unternehmen bei Aus- und Um-
          sanne/VD und Passugg/GR aus  Initiativen im Tourismussek-         kräfte aus der Schweiz res-       der beruflichen Grundbildung,  bauten, drohende Energiever-
          weit über 100 Nationen. Ich bin  tor, welche die Diversität för-  pektive Europa absaugt. Aber  über die höhere Berufsbildung  knappungen und explodierende
          überzeugt, dass gerade diese  dern, seien dies z.B. gezielte  ernsthaft, wenn ich mich in  bis zum Fachhochschulab-                  Energiekosten verteuern unsere
          Vielfalt noch viel bewusster als  Schulungen touristischer Leis-  KMU-Kreisen und unter Arbeit-     schluss  durchlässig  anbieten  Produkte massiv, hohe Infla-
          Chance erkannt und genutzt  tungsträger bezüglich Bedürf-         gebern herumhöre, dann kla-       kann. Weiter wollen wir unsere  tionsraten in den europäischen
          werden sollte. Nicht umsonst  nisse eines LGBTQ+-Kunden-          gen alle über fehlende Arbeits-   Rolle als Verband bei der Er-    Nah- wie den touristisch rele-
          belegen tausende von Studien,  segments oder mit Aktionen  kräfte – vom Gesundheitswesen  arbeitung und Weiterentwick-               vanten Fernmärkten wie etwa
          dass gemischte Teams innovati-   wie der «Woman Peak Chal-        bis hin zum Detailhandel, von  lung der Berufsbilder in unse-      der USA gefährden unsere Wett-
          ver und erfolgreicher unterwegs  lenge» zur Sichtbarmachung  den Lehrpersonen bis zu den  rer Branche weiter stärken und  bewerbskraft, geopolitische Kri-
          sind.                            von Frauen als Führungs-         Lastwagenchauffeuren. Und  fokussieren. Auch über die So-          senherde und Kriege Mitten in
                                           kräfte  im  Tourismussektor.  dies ist auch nicht nur in der  zialpartnerschaft fördern wir  Europa sind humanitäre Katast-
          Wie geht eine Branche wie die  Auch HotellerieSuisse setzt  Schweiz so. Im Rahmen eines  das lebenslange Lernen unse-                rophen, welche den Kernwerten
          Schweizerische Hotellerie mit  seit Jahren diesbezüglich ver-     Treffens der deutschsprachigen  rer Mitarbeitenden in den zahl-    der «Gastfreundschaft» unserer
          dem Thema «Vielfalt» um, im-     schiedene Akzente. So haben  Verbände aus der Hotellerie  reichen Beherbergungsbetrie-              Branche zutiefst zuwiderlaufen.
          merhin sind Ihre Gäste aus al-   wir unter anderem ein Mento-     und Gastronomie erzählten die  ben aktiv. In den vergangenen  An Herausforderungen mangelt
          len  Ländern der Welt,  haben  ring-Programm für Hotelièren  Branchenvertreter aus Luxem-           zwei Jahren haben wir zu-        es folglich nicht.
          die unterschiedlichsten Haut-    im Verband aufgebaut, welches  burg, Südtirol, Lichtenstein,  dem ein Coaching-Angebot für
          farben, die unterschiedlichsten  Frauen ganz gezielt die strate-  Österreich und  Deutschland  unsere Hoteldirektorinnen und              Interview: Corinne Remund
          Religionen, die unterschied-     gische Verbandstätigkeit nä-     unlängst unisono vom gleichen  Hoteldirektoren  aufgebaut,
          lichsten sexuellen Orientierun-  herbringt. Dass wir in 140 Jah-  Phänomen. Vor allem ist klar-     welche diese beim Transfor-
          gen, die unterschiedlichsten  ren Verbandsgeschichte erst  zustellen, dass wir nicht nur  mationsprozess ihrer Betriebe
          Weltanschauungen?                drei Frauen im siebenköpfigen  von einem Mangel an ausgebil-       unterstützt. Wichtig erscheint    Claude Meier (44) ist Direktor
          In   der   traditionsreichen     strategischen Organ von Hotel-   deten Fachkräften sprechen,  mir auch unser Engagement              HotellerieSuisse. Der Arbeitge-
          Schweizer Hotellerie ist die  lerieSuisse zählten, ist definitiv  sondern  generell  von  einem  mit dem Projekt «Top Ausbil-         berverband der innovativen und
          Gastfreundschaft ein tief ver-   Geschichte. Im November kan-     Mangel an Arbeitskräften.         dungsbetriebe», in welchem        nachhaltigen  Beherbergungs-
          ankerter Wert. Menschen an-      didieren für zwei offene Sitze                                     wir Berufsbildungsverantwort-     wirtschaft vertritt rund 3'000
          nehmen, so wie sie sind, gehört  erstmals gleich acht Persön-     Wie gehen Sie mit der Situation  liche unserer Betriebe weiter      Hotelleriebetriebe der Schweiz.
          zu unserer Branchen-DNA. Mei-    lichkeiten, darunter gar sechs  um?                                stärken, damit sie in der Aus-    Meier ist zudem Stiftungs- und
          ner  Einschätzung  nach  nutzt  Frauen. Dieses symbolische  Strukturell zeichnet sich der  bildungsqualität der Lehrbe-               Verwaltungsrat der Ecolé hôte-
          die Beherbergungswirtschaft  Signal hat Ausstrahlungskraft  Fachkräftemangel ja schon  triebe weitere Fortschritte er-                lière de Lausanne (EHL) Group.
          aber das umfassende Potenzial  in die gesamte Hotellerie: wir  seit  einem Jahrzehnt in ganz  zielen können.
   4   5   6   7   8   9   10   11   12   13   14